Ein Lehrbuch wird lebendig: Augmented Reality für Zahnmediziner
Game Developer des ETH Game Technology Centers haben eine App programmiert, die Zahnmediziner:innen die Prozesse des Knochenumbaus spielerisch vermittelt. Die Handykamera auf das Lehrbuch gerichtet, finden sich die Lernenden auf der Knochenoberfl?che wieder, wo sie Zellen beim Knochenabbau helfen.
![Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme eines Osteoklasten. Wie ein alter Kaugummi auf Raufaserteppich sieht es aus.](/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2022/08/ar-app-zum-lernen-von-zell-kommunikation-fuer-denknochenaufbau-im-mund/_jcr_content/articleLeadImage/image.imageformat.carousel.453132623.jpg)
Lehrbücher sind nützlich und enthalten viel wertvolles Wissen. Aufgrund ihrer Informationsdichte sind sie jedoch oft schwer zug?nglich und wirken abschreckend. Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, Ihr Lehrbuch würde Sie in eine Interaktion verwickeln, in der Sie den Inhalt spielerisch lernen? Genau so funktioniert die App ?AR Osteoclasts?, die Spielentwickler Jascha Grübel vom Game Technology Center der ETH in Zusammenarbeit mit Bernd Stadlinger, Stellvertretender Klinikdirektor der Klinik für Oralchirurgie am Zentrum für Zahnmedizin in Zürich und Mitglied des ETH AI Centers, programmiert hat, um angehenden Zahn?rzt:innen die Prozesse des Knochenumbaus n?herzubringen.
Richten die Studierenden die Kamera ihres Tablets oder Smartphones auf ein bestimmtes Bild im Buch ?Kommunikation der Zellen?, landen sie auf der Knochenoberfl?che neben einem Blutgef?ss. In diesem 600-fach vergr?sserten Mikrokosmos steuern die Spieler:innen biologische und biochemische Prozesse, die ansonsten automatisch ablaufen. Jedes der sechs Spiel-Kapitel wird von einer Stimme eingeführt, die den Studierenden die Hintergründe des Knochenabbaus sowie die Rolle, die sie als Spieler:innen einnehmen erl?utert (vgl. Video).
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Von uns unbemerkt werden jedes Jahr 10 Prozent unseres Skeletts umgebaut. Dabei sind sogenannte Osteoklasten-Zellen für den Abbau des Knochens und Osteoblasten für die Herstellung von neuem Knochenmaterial zust?ndig. Dieses Wissen ist für Zahn?rzt:innen besonders zentral, da Osteoklasten eine wichtige Rolle beim Zahnwechsel, aber auch bei der Integration von Zahnimplantaten in die natürliche Knochenstruktur spielen. Ebenso verteidigen sie die Kieferknochen gegen bakterielle Infektionen und unterstützen die Heilung von Wunden, wenn ein Zahn gezogen werden muss.
![Fabio Zünd, Geschäftsführer des Game Technology Centers](/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2022/08/ar-app-zum-lernen-von-zell-kommunikation-fuer-denknochenaufbau-im-mund/_jcr_content/wide_content/citation/image.imageformat.fullwidth.1543463536.jpg)
?Ein Spiel muss Spass machen und motivieren. Dazu müssen wir die biologischen Prozesse vereinfachen, ohne sie dabei zu verf?lschen.?Fabio Zünd![]()
Vom Mindmap zum Spiel – mit Hilfe von Mathematik
Auch Hauptentwickler Grübel musste sich zuerst in die Thematik einarbeiten: ?Ich habe Lehrfilme angeschaut und alle beteiligten Zellen, deren Aufgaben, Handlungen und Interaktionen in einem Mindmap zusammengefasst.? Weil die Prozesse im K?rper automatisch ablaufen, musste er entscheiden, welche Elemente davon im Spiel vom Menschen übernommen werden. ?Wenn der Spieler beispielsweise auf den Bildschirm tappt, sendet der Osteoklast Botenstoffe aus, um Stammzellen anzulocken, welche sich zu Osteoblasten entwickeln, die den Knochen wieder flicken?, erkl?rt Grübel. Manchmal erhalten die Spieler:innen auch symbolische Hilfen: In Kapitel drei steuern sie zwei Zapfh?hne – einer für S?ure und einer für Enzyme –, wobei sie mit der richtigen Menge der zwei Substanzen den Knochen aufl?sen k?nnen. Solche Spielmechanismen programmiert Grübel auf Unity – einer Plattform, auf der man Spiele entwickelt. ?Für ein Spiel muss sich auch im Computer die Zeit bewegen und den n?chsten Schritt im Spielverlauf definieren?, führt Grübel aus. ?Unity gibt diesen Hintergrund schon vor, sowie zum Beispiel auch physikalische Gesetze, die im Spiel gelten sollen.? Denn letzten Endes seien alle Spielmechanismen mathematische Berechnungen, so Grübel.
Im Dreieck zwischen Spiel, Wissenschaft und Bildung
Die Balance zwischen Spiel, Wissenschaft und Bildung zu finden, beschreibt Fabio Zünd, Gesch?ftsführer des GTCs, als besondere Herausforderung: ?Ein Spiel muss Spass machen und motivieren. Dazu müssen wir die biologischen Prozesse vereinfachen, ohne sie dabei zu verf?lschen.? Dies verlangte einen intensiven Austausch der Spielentwickler mit den Zahnmedizinern, Forschern und Verlagsmitarbeitern. ?Gewisse Spielzüge erinnerten die Forschenden an veraltete Wissensmodelle. Wir mussten daher gemeinsam herausfinden, wie wir das aktuelle Verst?ndnis sinnvoll darstellen k?nnen?, erkl?rt Grübel.
Screenshots der App "AR Osteoclasts"
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Das Lernspiel spielt sich auf der Knochenoberfl?che neben einem Blutgef?ss ab. Als erstes müssen die Spieler:innen Stammzellen (Kugeln) zur markierten Stelle ziehen, um daraus Osteoklasten-Zellen zu formen. (Bild: Game Technology Center, ETH) -
Die Spieler:innen übernehmen biochemische und biologische Prozesse, die ansonsten automatisch ablaufen würden.
(Bild: Game Technology Center, ETH) -
Haben die Studierenden genügend Stammzellen gesammelt, wird durch Einkreisen mit dem Finger ein Osteoklast gebildet (unten). (Bild: Game Technology Center, ETH) -
Osteoklasten l?sen das Knochenmaterial mit Hilfe von S?ure (grüner Hahn) und Enzymen (blauer Hahn) auf. (Bild: Game Technology Center, ETH) -
Im Spiel übernehmen die Studierenden diese Funktion und bearbeiten den Knochen mit dem richtigen Verh?ltnis der beiden Substanzen. Dabei dient die regenbogenf?rmige Anzeige als Hilfe. (Bild: Game Technology Center, ETH) -
Durch Tappen auf den Bildschirm sendet der Osteoklast Botenstoffe (pink) aus, um Stammzellen anzulocken, die sich zu Osteoblasten entwickeln und den Knochen wieder neu aufbauen.
(Bild: Game Technology Center, ETH)
Eine weitere Herausforderung war es, sicherzustellen, dass die App auf m?glichst vielen Ger?ten l?uft: ?Am GTC widmen wir uns normalerweise Forschungsprototypen – das heisst sie laufen nur auf einem Ger?t, aber k?nnen verrückte Dinge tun?, sagt Zünd. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei AR Osteoclasts um ein Produkt in den Appstores, das m?glichst viele Leute erreichen soll. Deshalb mussten die Entwickler die Technik in AR Osteoclasts limitieren, sodass die App auch auf ?lteren Ger?ten l?uft. Digital Artist Violaine Fayolle rechnete das detaillierte 3D-Modell des Knochens, auf dem sich der Spieler befindet so herunter, dass die Ger?te bei der Darstellung des Spiels nicht heisslaufen. Das 3D-Modell stammt vom Medizinalfilmproduzenten ?interActive Systems?, der sich neben dem Verlag an der App-Entwicklung beteiligt hat.
Spielen oder doch lieber lesen?
Inwiefern die Studierenden dank der App motivierter sind oder gar besser lernen, wird derzeit in einer begleitenden Studie erhoben. Beide Informatiker sehen jedoch in Spielen grosses p?dagogisches Potenzial. ?Man kann mit Spielen viel vermitteln, doch es ist schwierig zu wissen, was man vermittelt. Da brauchen wir noch mehr Resultate aus den Lernwissenschaften?, sagt Grübel. In der Balance zwischen Spiel und Wissensvermittlung ist die App ist zwar nicht so spielerisch herausgekommen, wie sich Grübel das gewünscht h?tte, doch im Hinblick auf die kurze Entwicklungszeit ist er mit dem Resultat zufrieden. ?Einen Buchinhalt interaktiv umzusetzen ist etwas Neues?, meint er. Seine Spiellust darf der Entwickler aber doch noch ausleben: Gemeinsam mit Bernd Stadlinger, der das Buch ?Kommunikation der Zellen? mitherausgegeben hat, geht das Projekt in eine zweite Runde. ?Wir m?chten das Spiel in Virtual Reality umsetzen, wo wir mehr Interaktionsm?glichkeiten haben und erforschen k?nnen, wie der Mensch mit dem Computer interagiert?, sagt Zünd.